
Carl Miville
Carl Miville gilt als ausgewiesener Dialektkenner. Er sagt u.a. Folgendes (Radio srf, 19. Juni 2016):
„Dialekte wandeln sich nicht, sie sterben!
Weil ständig Wörter und grammatische Formen aus dem Hochdeutschen in den Dialekt eindringen, verliert der Dialekt schleichend an Substanz. So werden immer mehr hochdeutsche Elemente Teil des Dialekts. Was als Dialektwandel bezeichnet wird, ist in Wahrheit ein Dialektsterben. Englische Wörter gefährden den Dialekt viel weniger als hochdeutsche Wörter, denn sie sind eindeutig als Fremdwörter erkennbar. Und wenn sie sich lange genug halten können, so wie die französischen Lehnwörter exgüsee und Trottoir, werden sie zu einem Teil des Dialektes.»
Kids – Chind
Hacker – Hacker (Holzhackr)
Download – aprladä
live – läbig, grad jetz, ooni z värändärä
Die Walserdialekte werden nicht nur durch das Hochdeutsche bedrängt, sondern auch durch die Dialekte aus der Nachbarschaft und dem Unterland. In Klosters-Davos gibt es eine Männervereinigung, die sich Wildmannli Tafel uf Tafaas nennt. Wenn schon, dann: Wilt Männli Taflä uf Tafaas. Allerdings ist Taflä bei uns kein Tisch. Der zuständige Vertreter des Vereins will den Vereinsnamen nicht ändern.
Pedro Lenz
Sorge tragen zu unserem Dialekt! Pedro Lenz, Schweizer Schriftsteller, schreibt dazu in der Südostschweiz vom 8. Mai 2016:
„Warum haben wir so oft den Eindruck, wir Deutschschweizer seien weniger sprachgewandt als beispielsweise die Deutschen? Weil wir uns mit den Deutschen sprachlich in ihrer und nicht in unserer Sprache messen. Wir tun, als wäre Deutsch unsere Sprache und die Mundart eine heimelige Variante davon. Das ist vollkommen falsch, weil es sich genau umgekehrt verhält: Die Mundart ist unsere Sprache, und das Hochdeutsche ist eine angelernte Variante davon. Erst wer das erfahren und akzeptiert hat, kann seine Sprachkompetenz ohne Komplexe ausleben und verbessern. Doch so lange wir glauben, unsere richtige Sprache sei Hochdeutsch und jede Mundart sei höchstens eine Hilfssprache, beherrschen wir weder die eine noch die andere Sprache vollständig.“
Erika Hössli: Sterbende Wörter
Erika Hössli von Splügen hat ein Lexikon der sterbenden Wörter verfasst mit dem Titel Äs Ääli (Walservereinigung Graubünden 2007). Diese Lektüre kann allen ans Herz gelegt werden, die sich mit unseren Dialekten befassen. Ähnlich wie im Schanfigg, ist die Bevölkerungszahl im Rheinwald gar klein und der Wortschatz der Walser sehr gefährdet. Kleine Kostproben:
… Gemschipoppi …: … Wier läbä ja au nid in Höölenä oder in Näschti und chönnä nisch nu verschteckä, wil wer guet replä chönnä und üns Fäll felsäfarbigs ischt, …
Üns Gotti ischt d Poschthaalteri gsi und ääs hed au zweimal im Tagg d Poscht vertreit.
Uf äm Mäscher va ünschem Ofäbenkli lid äs nüüs Poppi, üns jüngscht Schweschterli, igfääschets in äs himmelblaaws Umschlaggtuech.
Ä Schtuck innerzuä äm Doorf hirtet der Ööhi Schorsch ob der Schtraass schiis Vee.
Einflüsse von aussen, Nachlässigkeit im Inneren
Einige Wörter vergehen, weil die Tätigkeit nicht mehr ausgeführt wird: vrhischtä (Heu zum Trocknen aufhängen), röözä (Hanf wässern), hächlä (Hanf oder Flachs bearbeiten), andere gehen aus Rücksichtnahme auf die Gesprächspartner verloren, aus Gleichgültigkeit oder gar aus Angst, ausgelacht zu werden.
Wie stark der Dialekt in jungen Jahren geprägt wird, hängt von mehreren Einflüssen ab:
Kommt ein Elternteil aus einem anderen Sprachgebiet, ist es nicht selbstverständlich, dass die Kinder zu Hause den hiesigen Dialekt sprechen.
Am Fernseher hören die Kinder vielleicht nie den einheimischen Dialekt. Sie hören Tonträger mit fremdem Dialekt oder Schriftdeutsch, Märchen und Kasperligeschichten.
Im Kindergarten hören sie fremde Dialekte und erst recht auswärts beim Besuch der Oberstufe, wo sie wegen ihres Dialekts von „Hinderpagiig“ auffallen oder ausgelacht werden.
Lehrpersonen sprechen einen anderen Dialekt. Machen die Jugendlichen ihre Berufslehre im „Unterland“, kommen fast zwangsläufig neue Wörter hinzu und treten an die Stelle der alten.
Junge und Alte kommen mit dem Tourismus in Kontakt und meinen, sie müssten sich sprachlich anpassen. Oder der Dialekt als Kulturgut bedeutet ihnen nicht viel, sie sind zu wenig kritisch.
Leonie Barandun-Alig
Leonie Barandun-Alig ist sehr verbunden mit ihrem Obersaxer Dialekt und sagt in der Sendung Schnabelweid von srf vom 18.04.2019: D Lit üsama àndara Kantoo pàssant schi miar jo mit reda au net à, nü as i schii bessar varschtàà taati. Hier ein kurzer Ausschnitt:
Die ganze Sendung ist erreichbar über folgenden Link:
«Vum Gaa, wema net pliba chann» – Radio – Play SRF
Das Oberwallis müsste uns ein Vorbild sein. Es kann ja nicht sein, dass wir die Zürcher nachzuahmen versuchen, damit uns die Berner besser verstehen.
gä- als Vorsilbe
Den grössten Einfluss haben die an das Siedlungsgebiet der Walser angrenzenden Dialekte. Ein Sprachmerkmal des Schanfiggs und des mittleren und inneren Prättigaus sind insbesondere die ge-Formen des Partizips (Partizip Perfekt – Mittelwort der Vergangenheit). Schon allein an den fehlenden gä- erkennt man, ob der hiesige Walserdialekt zumindest teilweise verloren gegangen ist. Die Vorsilbe gä- ist immer unbetont.

Die gä stehen vor den Konsonanten b, d, p, t, z
Vor den übrigen Konsonanten steht laut der Empfehlung zum Schreiben von Dialekttexten nur ein g:
gchünt, gfaarä, ghöörd, gnuun, grungä, gsäid, gviärtläd, gwunkä, vor Vokalen und Umlauten ein gg:
ggaabäräd, ggerbt, ggimpft, ggoosäd, gguutäräd, ggäinäd, also immer dann, wenn das ä entbehrlich oder unpassend ist. Das g entfällt vor q, in der Regel ist es ein Fremdwort: Är hed dr Diänscht quitiärt.
Manchmal kann es entgegen dieser «Regel» ein Bedürfnis sein, gg zu schreiben, um den starken Gaumenlaut anzuzeigen: gglenggä, ggmuuläd, ggrupft, ggloffä, ggmäind, ggrabä, gguggschä, gglittä. Viele solcher Wörter sind in «Prättigauer Geschichten» und in «Läsiblüescht» zu finden.
Verarmung
Versuchen wir, Wörter weiter zu entwickeln, können wir von einer Bereicherung sprechen, kürzen wir bestehende Wörter nur ab, ist es eine Verarmung. Da und dort werden Wörter zusammengezogen, ein Entgegenkommen an die schnelllebige Zeit. Verarmung gibt es auch im Schriftdeutschen, so lesen wir in der Schweizer Familie 2020, Nr. 49: «Es zeugt von nicht sehr gepflegtem Schreibstil, wenn wir solches zu lesen bekommen wie mal runterschauen; wenn wer was essen will, soll er reinkommen«.

Die rot geschriebenen Abkürzungen sind nicht wohltuend für das Ohr, sie sind auch im Schriftdeutschen nicht vorhanden. Hingegen heisst es «zur Buche», «beim Haus», im Dialekt zur Buächä, zum Toor, im Hoof, am Büäl, bim Huus. Eine Besonderheit: Schi chomänd van Alp. Der Artikel wird nicht gesprochen. Diese Formulierung gilt nur für den Tag der Alpentladung.
Arnold Dicht schreibt in der Davoser Zeitung in seinem dritten Beitrag «Di guot aalt Ziit» vom 13. Oktober 2015: In dr Chuchi. Und Studäfridli: ä Stuck van dr Bibli. Hans Plattner: In dr Pulscha. Türligiiger: van dr Muoter, in dr Neehi van dr
Chilcha. Martin Schmid «Us em Underschnitt»: in dr Furja. Flügg vam Bärg: van dr übrigä Hennäschaar, in dr Fiderscher Au.
Eigenheiten
Eigenheit im Vals:
Paul Zinsli in Walser Volkstum Seite 163: Im Vals ist aus triichä trinkchä geworden, während stiichä (stinken) noch gesprochen wird (1986).
Eigenheit in Davos:
Aus überchoon wird da und dort berchoo. Man findet es selten als geschriebenes Wort. Im Davoser Wörterbuch steht uberchó und ubrcho. Martin Schmid «Us em Underschnitt» schreibt ubercho und übercho. berchoo ist aus dem Unterland übernommen worden: Si häd s bechoo. (Sendung srf, Schnabelweid, vom 14. Januar 2021: Die Sprache wird unterwandert.)
Eigenheiten im Raum Küblis:
1. Anstelle von üns hört man, wenn auch nicht oft, ünschäs. Fient hat ünschäs nie gebraucht. Fient in Studäfridli: Jetz is üns, … üns Vehli, … üns Vaterland. Sowohl im Prättigauer Wörterbuch als auch im Davoser Wörterbuch steht: ünschä, ünschi, üns (Possessivpronomen), unser, unsere, unser; ünschä Löffel, ünschi Gablä, üns Messer, Mz.: ünsch Löffel, ünsch Gablä, ünschi Messer. Ünschäs ist aus dem Unterland übernommen worden: Üsäs Grosi.

2. Aus schiin, schiini, schiis wird da und dort imschä und imschiinä (ihm seiner) und erscheint, vereinzelt allerdings, nur im Raum Küblis, nicht aber in Tälfsch und Luzein. Diese Wortverbindung stammt auch aus dem Unterland: Imsiis Grosi, imsiinä Grosspapi, imsiini Guetzli .
Einige Textbeispiele mit schiin, schiim, schiini, schiinärä, schiis usw.:
… zu schim Wiib … . (Margrith Ladner-Frei, Grüsch/Schiers, «Dr Morgetmuffl» in Prättiger Gschichtä)
… schiin Ziggoriäggaffi, …(Eva Bardill, Gadenstätt, Pany, «Äs Gschenk van Basel» in Läsiblüescht.
… va waa är schiini Zipfelchappä bäziehi, … (Fluri Aliesch, Luzein, Kolumne im P&H vom 21.02. 2012.
… va schiim Ghülf … (Ina Zweifel-Disch, Küblis, «Dr Biräbomm» in Läsiblüescht.
… hinder schim Rügg … (Anita Hansemann, Tälfsch, «Ds Härzmedaillon» in Läsiblüescht)
… va schiim Ätti, … (Marina Egli, Pany, «Uschi Ungfraut», in Läsiblüescht)
Der Naachpuur hed mr schiin Hülf angetrage, … schiin Aarbet, schii Chüe schiin Tieri, schiin Eeni, schiin, schii, schiis, schii(n), … (Davoser Wörterbuch)
Anstatt schii tüä nüüd hört man vereinzelt schii techi nüüd. (Herkunft unbekannt)
Im Walserdeutsch kann man kaum eine Veränderungen als eigene Sprachentwicklung bezeichnen. Aus Herr Jesus wird Herrjee und härjésäs. Findet man das Wort vrfluächt als zu grob, entsteht vrfluämäd, nicht nur bei den Walsern. Nach dem heutigen Sprachempfinden sind einige Wörter von früher verpönt, weshalb die Verkleinerungsform gewählt wird: chotzä ist zu chötzlä geworden, brunzä zu brünzlä, andere von aussen hergeholt: schiissä zu ggäggälä. Im Umgang mit dem Vieh werden die alten Wörter nicht als anstössig empfunden. D Chuä nümmt ä Schnorä voll, schi schiisst in da Hoof, schi brunzäd dm Chalb über dä Grind aab. Sonst gibt es bei uns in allen Lebensbereichen wohl nur das Fallenlassen bisheriger Wörter, um sie durch fremde zu ersetzen, es sei denn, wir zählen Zusammensetzungen dazu wie däär Schnudrgoof.

Den entglittenen Schirm kann man zurückholen. Vernachlässigte Wörter sind verloren, sie werden durch fremde ersetzt, bis man keine eigenen mehr hat.
Im Sinne von Carl Miville, Pedro Lenz, Erika Hössli und Leonie Barandun-Alig:
Besser hinhören,
bewusster sprechen!
